Der Beirat Soziokultur wurde im Jahr 2011 auf Beschluss des Stadtrats gegründet, um in Jenas vielfältiger Kulturlandschaft als Vermittler zwischen verschiedenen Akteur:innen, Politik und Verwaltung zu agieren. Er formuliert die Bedarfe freier Kulturakteur:innen gegenüber der Politik und Verwaltung und bietet so den Anstoß zu einer inklusiveren Stadtgesellschaft.
Die Satzung sieht dabei folgende Aufgaben und Ziele vor:
„Der Beirat hat das Ziel, Ressourcen zu bündeln und die Jugend- und Kulturarbeit zu stärken. Er dient als Ansprechpartner für die verschiedenen Akteure im Bereich der Soziokultur und agiert als Mittler zwischen der freien Kunst- und Kulturszene, der Politik und der kommunalen Verwaltung. Dazu gehören die Realisierung des Leitziels des Jenaer Kulturkonzeptes durch die Unterstützung bei der Entwicklung von kooperativen und interdisziplinären Netzwerken (z.B. Bildungslandschaften) sowie die Beratung und Begleitung zur Entwicklung von soziokulturellen Angeboten entsprechend dem ermittelten Bedarf und die Begleitung der kontinuierlichen Qualitätsentwicklung der soziokulturellen Angebote. Der Beirat für Soziokultur fungiert als Fürsprecher der Soziokultur.“
In seiner Arbeit verschreibt sich der Beirat Soziokultur demokratischen Werten.
Damit die in der Satzung festgelegten Ziele verwirklicht werden können, identifiziert der Beirat Soziokultur die folgend aufgeführten Handlungsfelder.
KULTUR BRAUCHT WERTSCHÄTZUNG
Damit Kultur weiterhin ihre gesellschaftliche wie wirtschaftliche Transformationskraft entfalten kann, muss der Perspektive und den Interessen Kulturschaffender dringend mehr Raum gegeben werden: Handlungs- und Gestaltungsspielraum. Ihre gemeinschafts- und identitätsstiftende Rolle im städtischen Diskurs muss sich in rechtlichen Rahmenbedingungen und deren Umsetzung widerspiegeln und bei politischen wie verwaltungsbehördlichen Fragen und Entscheidungen handlungsleitend sein.
Soziokulturelle Spielstätten und Clubs brauchen deutlich mehr Akzeptanz und Wertschätzung seitens der Stadtpolitik. Das Tolerieren ihrer Existenz allein genügt nicht, um ihrem Stellenwert für die Attraktivität der Stadt Rechnung zu tragen. Es ist längst überfällig, Clubs den nötigen Respekt zu zollen und sie als das anzuerkennen, was sie sind: Kulturstätten!
KULTUR BRAUCHT PLATZ
Wie in der Kulturkonzeption1 und im Stadtentwicklungskonzept2 bereits verankert: (sozio-)kulturelle Freiräume, Veranstaltungs- und Begegnungsorte müssen einerseits im Bestand geschützt werden und brauchen andererseits neue Aktionsräume.
Wie viele Städte deutschlandweit steht Jena unter einem enormen Gentrifizierungsdruck. Die Aufwertung vieler städtischer Räume hat zur Folge, dass Freiräume für Jugendliche und junge Erwachsene immer knapper werden. Dabei beobachten wir, dass sich in den letzten Jahren das Konzept der Free Open-Airs als wichtiger Bestandteil der jugend-, sub- sowie sozio-kulturellen Szene herauskristallisiert. Im Rahmen der Freiflächenlabore wird versucht, diese beiden Entwicklungen so in Einklang zu bringen, dass Free Open-Airs stadtgesellschaftlich verträglich und gleichzeitig szenetypisch durchführbar sind. Der bereits angestoßene Prozess muss fortgeführt und verstetigt werden. Eine lebenswerte Stadt braucht kulturelle Experimentierfelder für Jugendliche und junge Erwachsene, die den szenetypischen Anforderungen gerecht werden. Dies kann nur erreicht werden, indem Verwaltungshürden abgebaut und städtische Flächen nutzbar gemacht werden.
KULTUR BRAUCHT nachhaltiges Bewusstsein
Kultur verlangt Bewusstsein für soziale Missstände. In den letzten Jahren ist der vermehrte Einsatz von und ein zunehmender Bedarf an einer effektiven Awareness-Arbeit im (sozio-)kulturellen Bereich beobachtbar. Den entscheidenden Anstoß für diese Entwicklung gab die Me Too-Debatte, in deren Verlauf etliche FLINTA*-Personen über sexistisches und grenzüberschreitendes Verhalten in sämtlichen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens berichteten und damit zu einer öffentlichen Bewusstwerdung dieser Problematik beitrugen. Awareness beschreibt ein Konzept, welches sich mit dem Themenfeld psychischer, physischer und persönlicher Grenzüberschreitungen bis hin zu Gewalt in öffentlichen Räumen auseinandersetzt und entsprechende Lösungsansätze sucht. Ziel dieses Konzeptes ist es, Diskriminierungen und Grenzüberschreitungen auf Veranstaltungen aktiv zu benennen und diesen entschlossen entgegenzutreten. Der Beirat Soziokultur begrüßt diese Entwicklung. Er fordert (sozio-)kulturelle Akteur:innen, politische Entscheidungsträger:innen und die Verwaltung dazu auf, sich dieser Entwicklung nicht zu verschließen, sondern proaktiv an der Schaffung von Safer Spaces und der Weiterentwicklung des Awareness-Konzeptes mitzuwirken.
Im Kontext aktueller Klima- und Umweltdebatten wird immer deutlicher, dass das Verhalten jedes einzelnen Menschen eine Rolle spielt, um die Auswirkungen, menschengemachter Klimaveränderungen einzudämmen. Die (sozio-)kulturelle Szene macht sich in vielen Bereichen stark für dieses Werteverständnis, darf aber beim Erreichen der eigenen Umwelt- und Klimaziele NICHT alleingelassen werden. Wir fordern, dass zukünftig das Bestreben nach klimagerechten und umweltverträglichen Kultur-Formaten auf allen Ebenen unterstützt wird.
KULTUR BRAUCHT EIN GESUNDES ÖKOSYSTEM
In den letzten Jahren haben sich die rechtlichen Rahmenbedingungen für Veranstaltende in regelmäßigen Abständen verschärft. Neben immensen sicherheitstechnischen Voraussetzungen, denen bei Veranstaltungen Rechnung getragen werden muss, muss davon ausgegangen werden, dass auch zukünftig Veranstaltungsauflagen in verschiedenen Bereichen verschärft werden könnten, wie etwa die Corona-Pandemie bereits gezeigt hat. Diese Regeln erzeugen hohe Hürden für soziokulturelle Akteur:innen, die die Umsetzung einer Vielzahl von Veranstaltungsformaten erschweren oder verunmöglichen können. Diesem Umstand muss zwingend Rechnung getragen werden, um eine Erosion des demokratischen Kulturbetriebs zu verhindern. Daher fordern wir diesbezüglich Maßnahmen zu ergreifen, um sowohl rechtlich als auch finanziell Sicherheit zu schaffen, damit die Soziokultur auch in Zukunft Keimzelle und Motor des kulturellen Lebens sein kann.
Wir fordern, dass die Schutzbedürftigkeit von Kultur-Emissionen anerkannt wird. In Thüringen braucht es eine kulturgerechte landesrechtliche Regelung zu Kultur-Emissionen, analog zur Schutzbedürftigkeit von Lärm auf Spielplätzen.
Im Zuge der Pandemie wurden zunehmend Veranstaltungen in den Außenbereich verlegt. Darüber hinaus besteht seit langem ein gesteigertes Bedürfnis nach Freiluftveranstaltungen seitens der Kulturinteressierten der Stadt Jena. Die Bedeutung dieser Veranstaltungen ist enorm, weil sie – vor dem Hintergrund der akuten Raumknappheit – das Fortbestehen unserer Veranstaltungskultur sichern. Diesem Aspekt muss in den Genehmigungsverfahren von Sonderveranstaltungen, und somit sachlich den Bedürfnissen von Veranstaltenden wie Besuchenden, Rechnung getragen werden.
Um die Schwelle der (sozio-)kulturellen Beteiligung neuer Akteur:innen zu verringern und etablierten Träger:innen Handlungsfähigkeit zurückzugeben bedarf es einer Entspannung der gesetzlichen Rahmenbedingungen der „Ordnungsbehördlichen Verordnung zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in der Stadt Jena“ in den Bereichen Straßenmusik3, Plakatierung4 und Freiluftveranstaltungen5. Die Perspektive von Kulturschaffenden und Veranstaltenden muss stärker bei behördlichen Entscheidungen berücksichtigt werden.
KULTUR BRAUCHT sicheren Halt
Die Etablierung neuer, bedarfsgerechter Förderstrategien ist dringend nötig. Statt an Fördersummen & -instrumenten zu sparen, müssen innovative und flexible Ansätze erprobt und fortgesetzt werden, die die Struktur und die Bedarfe Jenas (sozio-)kultureller, freier Szene widerspiegeln.
Miteinander unvereinbare, sich ausschließende oder sich widersprechende Förderinstrumente auf Bundes-, Landes-, und kommunaler Ebene sind durch langfristige, niedrigschwellige und kompatible Förderrichtlinien zu ersetzen.
KULTUR BRAUCHT eine Stimme
Kultur benötigt Akzeptanz und eine Stimme im politischen Diskurs. Dialog benötigt ein Gegenüber – eine:n Kulturdezernent:in. Der Oberbürgermeister muss seiner Verantwortung als Kulturdezernent endlich gerecht werden oder diese politische Aufgabe übertragen. Die Jenaer Kulturszene soll ihre Interessen als Teil der Stadt und Teil der Gesellschaft glaubhaft vertreten dürfen!
Das Konzept einer Nachtkulturvertretung trägt in anderen deutschen Städten bereits Früchte. Sogenannte Nachtbürgermeister:innnen vermitteln zwischen Behörden, Anwohnenden und Kulturschaffenden, reduzieren Konflikte und schaffen Akzeptanz in der Stadtgesellschaft. Der Beirat Soziokultur hält an der Forderung fest, zeitnah eine solche Stelle für Jena zu schaffen.
Ergreifen wir die Chance einer verantwortungsbewussten Stadtentwicklung, die der Relevanz von Kunst & Kultur für die Stadtgesellschaft Rechnung trägt!
Um dem Auftrag als vermittelndes Gremium gerecht zu werden, ist der Erhalt des Beirat Soziokultur langfristig zu sichern und seine Sichtbarkeit, Struktur und Wirkung stetig weiterzuentwickeln. Für eine fruchtbare und effektive Zusammenarbeit ist die Entsendung eines:einer Delegierten aus dem Beirat Soziokultur als beratendes Mitglied in den Kulturausschuss unabdingbar. Hinsichtlich der engeren Vernetzung und eines schnelleren, direkteren Informationsflusses wäre diese Form der Zusammenarbeit beiderseitig von erheblichem Vorteil.
Für eine partizipative und gleichberechtigte kommunale Kulturpolitik bedarf es gemeinsam erarbeiteter kulturpolitischer Strategien und Visionen. Demokratische, partizipative Prozesse müssen dahingehend weiter geöffnet werden, um Differenzen zwischen Bürger:innen und politischen Entscheidungsträger:innen weiter zu verkleinern. Nur so kann langfristig und nachhaltig das Vertrauen in Politik und Verwaltung gestärkt werden.
Beirat für Soziokultur Jena
Jena, 20.04.2023